Heute vor 20 Jahren veröffentlichte das extrem rechte „Krefelder Forum Freies Deutschland“ rund um den Ex-Republikaner Hans-Ulrich Höfs („Neonazi ist für mich ein Ehrbegriff“) die sogenannte „Krefelder Erklärung zur Lage der Bürgerrechte in der BRD“.
Nicht, dass diese „Erklärung“ besonders gehaltvoll gewesen wäre oder eine Relevanz erreicht hätte, die eine aktuelle Erwähnung rechtfertigen würde – allerdings sehen wir Parallelen zu den heutigen Krefelder „Querdenkern“, auf die wir nachfolgend hinweisen möchten.
In den insgesamt 17 Thesen der „Krefelder Erkärung“ arbeitete sich das vom Landesverfassungsschutz als „rechtsextrem“ eingestufte Krefelder Forum an der „politischen Klasse der BRD“ und dessen angeblichen Kampagne gegen das „deutsche Volk“ ab. Die Selbstidentifikation als Opfer zieht sich wie ein roter Faden durch das Pamphlet. Sei es das Gejammer über fehlende Meinungsfreiheit, der Vergleich des staatlichen „Kampfes gegen Rechts“ mit der Judenverfolung, die Annahme, „rechtsextreme“ Straftaten seien in vielen Fällen das Werk von „Spitzeln und Provokateuren“ oder die Umdeutung rassistischer Gewalt zu einer natürlichen Abwehrreaktion. Außerdem kritisierte der Text „die Presse“ und stellte das Grundgesetz als „nicht auf Basis einer geheimen Volksabstimmung entstanden“ dar. Als Schlussfolgerung zitierte das Krefelder Forum in der (vor)letzten These (die letzte These enthielt lediglich die Parole „Freiheit für Deutschland! Selbstbestimmung des Volkes!“) den §20 des Grundgesetzes. Insbesondere Absatz 4 kommt hier eine besondere Relevanz zu: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Und damit wären wir bereits bei den Krefelder „Querdenkern“, genauer gesagt bei deren Initiator und Verantwortlichen, Michael Pieper. Pieper veröffentlichte im Vorfeld einer Demonstration am 26.10.2020 in Krefeld ein Video, in dem er ankündigte, beim Demonstrationszug auf das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes zu verzichten, obwohl im gesamten Innenstadtbericht Maskenpflicht galt. Als Begründung berief er sich auf eben jenen §20 Abs. 4, aus dem er sich das Recht auf Widerstand ableitete.
Seitdem der Absatz 1968 in das Grundgesetz eingefügt wurde, diente er immer wieder als Legitimation von Gesetzesbrüchen und der Aufforderung zu solchen, insbesondere seitens faschistischer Gruppierungen. Ironischerweise vorwiegend von solchen Gruppierungen, die das Grundgesetz als nicht legitimiert ansehen.
Nicht, dass wir uns prinzipiell gegen Gesetzesbrüche aussprechen würden, der Kern liegt hier allerdings woanders. Nämlich in dem, was die Deutschen am besten können: Selbstviktimisierung. Die fast schon pathologische Vorstellung, Opfer einer höheren Macht zu sein, ist gleichermaßen eine Konstante der deutschen Geschichte wie ein genuines Merkmal des Antisemitismus. Es scheint daher nur logisch, sich auf einen „Widerstandsparagraphen“ zu beziehen und die eigene Agitation als natürliche Reaktion auf eine mal diffuse, mal konkrete Unterdrückung zu deklarieren. Das Verhältnis zu §20 Abs. 4 ist dabei ein rein instrumentelles. Sprich: Nicht die „Rettung“ des Grundgesetzes ist das eigentliche Ziel, sondern die Legitimation der eigenen politischen Agenda. Dass dies auch für die Krefelder Demonstrierenden gilt, das haben wir bereits in einem Aufruf zur Demonstration „Kein Platz für Antisemitismus“ dargelegt.
Gewissermaßen könnte die gesamte „Krefelder Erklärung“ aus der Feder der Querdenken-Bewegung stammen. Sowohl Rhetorik als auch Inhalt und Botschaft sind deckungsgleich mit dem, was die „Querdenker“ in ihren Telegramgruppen teilen und Woche für Woche auf die Straße tragen. Entsprechend halten wir es für absolut angemessen, sie in eine Reihe mit ehemaligen extrem rechten Gruppierungen zu setzen und sie als eben solche zu klassifizieren. Dass diese das selbst nicht wahrhaben will, ist dabei wenig verwunderlich. Schließlich kann so ein weiteres Opfer-Narrativ aufgebaut werden.
Wirklich deutlich wird der deutsche Opfermythos aber bei einem internationalen Vergleich der Anti-Coronamaßnahmen-Proteste. Natürlich finden sich auch in anderen Ländern, wie in Polen, England, Niederlande, USA usw. (antisemitische) Erklärungsmuster, mit denen die Pandemie als geplantes Unterdrückungsinstrument gegen das eigene Volk betrachtet wird – eine deutsche Besonderheit stellt allerdings das Geschichtsverständnis der bundesweiten Proteste dar. Die Forderung nach einem „Friedensvertrag“, die Deklarierung der BRD als „GmbH“ oder „AG“, das Anheften von „Judensternen“ oder der Vergleich Drostens mit dem Nazi-Arzt Dr. Mengele zeigen zweierlei: 1. In den Protesten lässt sich eine immer noch andauernde Schuldabwehr bezüglich der NS-Zeit beobachten. Man sehnt sich danach, endlich selbst einmal Opfer zu sein. Und 2. Die „deutsche Frage“, mit der die sogenannten „Reichsbürger“ die Existenz eines deutschen Staates infrage stellen und Deutschland als besetzt ansehen, lässt die aktuelle Corona-Pandemie als Teil eines seit Jahrzehnten andauernden Plans, der nicht nur gegen die verschiedenen „Völker“, sondern ganz explizit gegen das „deutsche Volk“ gerichtet sei, erscheinen. Der Tenor ist klar: Deutschland sei seit mehreren Generationen Opfer einer großen Unterjochung. Und gegen diese gefühlte Unterjochung gelte es nun auf die Straße zu gehen. Corona spielt dabei – und das wird immer wieder von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren betont – nur eine mobilisierende Rolle.
Zwar ist die Querdenken-Bewegung seit dem sogenannten „Sturm auf den Bundestag“ darauf bedacht, schwarz-weiß-rote Symboliken und Reichsbürger-Inhalte von ihren Demonstrationen fern zu halten (so auch in Krefeld), doch diese Entscheidung ist rein taktischer Natur. Unzählige Überschneidungen und ein Blick in diverse Telegramgruppen belegen, dass auch ein nicht geringer Teil der sich bieder gebenden „Querdenker“ dem Spektrum der „Reichsbürger“ zuzuordnen ist und aufgrund des imaginierten Opfernarrativs auf die Straße geht. Ein Opfernarrativ, das nicht nur Teil einer kleinen Untergruppe ist, sondern als fundamentaler Bestandteil der gesamten Bewegung gelten kann, wie Michael Pieper exemplarisch zeigt. Ein Opfernarrativ, das eine Konstante rechter Ideologie in Deutschland darstellt. Ein Opfernarrativ, das aus einem bedenklichen Geschichtsverständnis heraus entsteht. Diesem Opfernarrativ gilt es entschieden entgegen zu treten. In der aktuellen Krisenzeit, aber auch darüber hinaus.