PDF – Die Furcht vor dem Kulturmarxismus

PDF - Die Furcht vor dem Kulturmarxismus

Heute Abend versuchen die Pfeifen von Pegida mal wieder ein Fuß auf Duisburgs Straßen zu setzen. Beworben wird die Veranstaltung unter anderem mit dem Slogan „Gegen Kulturmarxismus“, der durch die Worte „gegen die Zerstörung deutscher Sitten und Traditionen“ ergänzt wird.

Kommend aus den USA erfreut sich der Begriff des Kulturmarxismus auch unter deutschen Rechten steigender Beliebtheit. Wir haben die Geschichte dieser im Kern antisemitischen Verschwörungstheorie sowie ihre Hintergründe und Wirkmacht in der Gegenwart nachgezeichnet. Der Text kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – Das Gespenst des Kulturmarxismus. Allenthalben wird es erblickt und kündet vom Verfall althergebrachter Sitten, zersetzt es die westlich-bürgerliche Kultur und arbeitet an der Verwirklichung einer (rechten) Dystopie, in welcher die vollkommene „Diskreditierung der bürgerlichen Familie, Früh- und Hypersexualisierung, Genderismus und Multikulturalismus“ (Weidel 2018: o.S) umgesetzt sind. So prophezeite es beispielsweise Alice Weidel 2018 in der rechten Zeitschrift junge Freiheit – und sie ist bei Weitem nicht die einzige Multiplikatorin dieser Erzählung. Auch Parteikollege Keller meint zu wissen, was Ziel des „kulturmarxistisch motivierten Treibens“ ist, nämlich „die klassische Familienform auszulöschen und gegen beliebige Verpaarungsmodelle einzutauschen“ (Keller 2018: o.S) und der rechte Netzwerker Sven von Storch fordert für die antifeministische Initiative Familien-Schutz kurz und bündig „Sozialistische Familienpolitik stoppen – Freiheit statt Kulturmarxismus“ (von Storch 2019: o.S.). 

Dem Narrativ des Kulturmarxismus bzw. des Cultural Marxism haftet stets etwas Konspiratives an. Die aus der US-amerikanischen Rechten stammende Verschwörungsideologie wurde während der letzten Dekade im deutschsprachigen Raum von national-chauvinistischen, konservativen und libertären Kreisen adaptiert und avancierte als Kulturmarxismus rasch zu einem der Kernbegriffe des reaktionären Backlash. Jene, die diese Erzählung zum Teil ihres Weltbildes gemacht haben, wähnen sich in einer, von linken Eliten korrumpierten, demütigenden Gegenwart, welche es entschieden und mitunter gewaltvoll zurückzuweisen gilt. Dass diese wahnhafte Idee außerhalb der USA besonders in Deutschland Konjunktur hat, kann im Sinne ihrer Anhängerinnen und Anhänger als eine Art Zirkelschluss betrachtet werden, denn als Urheber kulturmarxistischer Infiltration gelten namentlich Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und ihre Frankfurter Entourage. So lässt Alice Weidel ihre Leserinnen und Leser weiter wissen, dass sich die „Frankfurter Schule daran [machte], mit einer Mischung aus Freud und Marx in ihrer Kritischen Theorie die von ihnen als Feind ausgemachte westlich-bürgerliche Kultur zu brechen, um die Grundlage für eine marxistische ‚Kulturrevolution‘ zu legen“ (Weidel 2018), welche ihr zufolge gegenwärtig in vollem Gange ist. Diese Verschwörungserzählung eines umstürzlerischen Kulturmarxismus hat keinerlei theoretischen Halt, suggeriert aber wohl ihre eigene Geschichte. 

Tatsächlich wurde in den 1930er Jahren im akademischen Diskurs der USA Cultural Marxism und Critical Theory zum Teil synonym verwendet, nämlich im Sinne einer eigenständigen Theorie mit eigenen Argumenten und in direkter Verbindung zu den zentralen Gesellschaftstheoretikern der Frankfurter Schule (vgl. Jamin 2018: 4). Diese emigrierten bekanntermaßen 1933 in die USA, wo sie schließlich an der Columbia-University ein neues wissenschaftliches Zentrum für ihr Institut fanden. Der hier verortete Cultural Marxism hegte den Anspruch, die kulturellen Dynamiken des Kapitalismus genau zu begreifen und Kultur mit dem Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen sie hervorgeht, zu betrachten. In marxistischer Tradition wurde eine warenförmige Kultur als Ideologie gewertet, welche untrennbar mit den ökonomischen und politischen Verhältnissen einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verwoben ist. Kultur kann demnach niemals unabhängig von den Produktionsverhältnissen und der Reproduktion herrschender sozialer Hierarchien betrachtet werden. In dieser Kritik liegt nicht nur die Bestrebung zur Negation des Bestehenden. Mit ihr stellt sich auch die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für eine Unabhängigkeit der Kultur selbst. Sie hilft Widersprüche zu erkennen, Ideologien durch tiefgehende Analyse den Schleier des „Natürlichen“ zu entreißen und so letztendlich ein Aufbegehren gegen das Dominante zu begründen. Nicht grundlos also erhielt dieser Cultural Marxism das Prädikat, eine „politische Waffe“ (ebd.: 5) im akademischen Feld der Kulturwissenschaften zu sein. 

Vereinfacht gesagt ist es genau diese Kritik des Bestehenden, welche die Frankfurter Schule in den Augen der Verschwörungsgläubigen zur „Keimzelle“ der Zerstörung all dessen macht, was für sie der Inbegriff der westlichen Welt ist. Ausformuliert wurde dies erstmals in den USA. Der Lütticher Politikwissenschaftler Jérôme Jamin weist darauf hin, dass die derzeit grassierende Verwendung der kulturmarxistischen Verschwörungserzählung meist auf einem sehr überschaubaren Fundus aus populärwissenschaftlichen Artikeln und Meinungsbeiträgen rechter US-Autoren fußt und von diesen ab den frühen Neunzigern Jahren publiziert wurde (vgl.: Jamin 2018: 5). Im Inhalt unterscheiden sich diese Erzeugnisse nur geringfügig. Im Zentrum steht die Behauptung, dass die Bildungs- und Kulturinstitutionen gegenwärtig als Vervielfachungsanstalten der political correctness fungierten, welche sich als Unterdrückungswerkzeug gegen weiße, heterosexuelle Männer richte. Demnach musste der klassische Marxismus das Ringen um die ökonomische und somit weltpolitische Vorherrschaft bereits früh verloren geben und den Kampf auf das Feld der Kultur verlagern, um dort schleichend hegemonial zu werden. Im Bestreben, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, habe der Kulturmarxismus ebenso die Tendenz zur Totalität wie der spätestens seit 1990 diskreditierte „eigentliche“ Marxismus. Vor allem junge Studierende sollten an den Hochschulen durch die Apologeten der Frankfurter Schule indoktriniert werden, um in der Folge von den höchsten bürokratischen und politischen Ämtern aus, die Idee eines radikalen Egalitarismus durch die Macht des Staates zu erzwingen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich im „Kulturbereich“ im Gegensatz zum Industriesektor kein klassisches Proletariat vorfinden ließ, welches sich als revolutionäres Subjekt angeboten hätte, adressiere der Kulturmarxismus „sein“ neues Proletariat: Frauen und Minderheiten, welchen als Antagonistinnen des weißen, christlichen und heterosexuellen Mannes eine generelle Tugendhaftigkeit attestiert werde. Um dieses Ziel zu erreichen, versuchten Kulturmarxistinnen und -marxisten die Gesellschaft zu spalten und Frauen gegen Männer, Humanisten gegen Christen etc. aufzuwiegeln. Zum jetzigen Stand der Entwicklung befänden sich die einst stolzen westlichen Gesellschaften in einem Feminat bzw. einer Femokratie oder stünden an der Schwelle zu einer solchen (vgl. Jamin 2018: 5 ff.; vgl. Krall 2020: 138 ff.). 

Der antisemitische Charakter dieser verschwörungsideologischen Erzählung ist augenfällig. Das Misstrauen, welches die Nationalsozialisten Juden und Intellektuellen – jüdischen Intellektuellen insbesondere – entgegengebracht haben, sei, so ist es in den einschlägigen Veröffentlichungen zu lesen, in Anbetracht der Tatsache, dass der Kulturmarxismus der Frankfurter Schule evident alles zersetze, was als gut und sittlich galt, allem voran männliche Hegemonie, durchaus berechtigt gewesen (vgl. Jamin 2018: 6). Hier schreibt sich die jahrhundertealte Geschichte des Stereotyps eines ewig wandernden Juden als Verschwörer und Brunnenvergifter in einer säkularisierten und aktualisierten Version fort. Was der Glaube an eine kulturmarxistische Verschwörung impliziert ist die Furcht vor dem Beherrschtwerden, was wiederum ein genuiner Bestandteil antisemitischer Paranoia ist. Das unterscheidet diese von Rassismen, in welchen es im Gegenteil vorrangig um die Beherrschung von Menschen geht. In seinem Aufsatz What is the Frankfurt School stellt der Militär Gerald Atkinson, einer der Urheber der Idee einer kulturmarxististischen Verschwörung, die Frage: „Didn’t win America the Cold War against the spreed of Communism?“ (Atkinson 1999: 2) und kann diese nicht vollends bejahen, denn während man in Übersee tapfer an der Front gegen die Kommunisten gekämpft habe, hätten inländische Intellektuelle im Gefolge der Frankfurter Schule die 55 Jahre aufopferungsvollen Kampfes der USA für die Freiheit insgeheim dafür genutzt, den Kulturmarxismus und das Matriarchat einzuführen (vgl.: ebd. ff.). Diese wahnwitzige Behauptung lässt unmittelbar an eine andere historisch wirkmächtige Legende denken, in welcher Sozialisten, Liberale und Juden bezichtigt wurden, hinterrücks den Truppen des Kaisers einen Dolchstoß versetzt zu haben, um zügiger einen Staat nach ihren Vorstellungen zu errichten, welchem im Weltbild vieler konservativer Revolutionäre und Nationalsozialisten von Beginn an das Stigma einer „verjudeten Republik“ anhaftete. Die Weimarer Demokratie war für sie eine institutionalisierte Demütigung. Eine solche ist für Faschisten und Rechtspopulisten der Gegenwart derzeit im Entstehen begriffen. Der primitive Konnex zwischen Antisemitismus und Antifeminismus ist hier bereits schnell enttarnt, denn Schuld am „fatalen Siegeszug“ des Feminismus und der Emanzipation der Frau hat der durchweg jüdisch konnotierte Kulturmarxismus. 

Selbstverständlich gibt es für diese „These“ keinerlei wissenschaftlichen Befund. Auch lässt sich das unterstellte, höchst praktische Vorhaben einer marxistisch motivierten „Unterwanderung der Gesellschaft“ nicht aus den Schriften Adornos oder Horkheimers ableiten. Nicht zu Unrecht ist es doch eher die Praxisferne, welche diesen Theoretikern, auch von wohlgesonnener Seite, vorgeworfen wird. Adorno selbst stimmte in diese Kritik ein und gab zu, dass ihm seine „steigende Abneigung gegen die Praxis“ (Adorno 1986(1966): 783) im Widerspruch zu seinen theoretischen Positionen durchaus vorzuhalten sei, oder konkreter in seinem berühmten Spiegel-Interview von ’69 : „Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordentlich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfindet. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zu Praxis“ (Adorno 1969: o.S.). 

Vor dem Hintergrund der jüngsten Krisenvergangenheit scheinen sich Verschwörungsmythen und unterkomplexe Weltdeutungen zu vervielfachen und immer anschlussfähiger zu werden. Warum also verdient gerade diese eine besondere Aufmerksamkeit? 

Wie es der Name vermuten lässt, handelt es sich bei der Kulturmarxismuserzählung um ein spezifische Form des Antikommunismus, welche über seine profanen Erscheinungsformen jedoch weit hinausreicht. Der Antikommunismus selbst ist genuiner Bestandteil der Bundesrepublik und war bereits in der Ära Adenauers eine Begründungsgrundlage für reaktionäre und regressive Politiken. Wohl stellt er keine einheitliche Ideologie dar, ist jedoch meistens klar in den Ost-West-Konflikt des 20. Jahrhunderts einzubetten. Innerhalb der Systemauseinandersetzung gab es für diesen einen konkreten Antagonisten, welcher klar verortbar war, nämlich auf der „anderen Seite“. Sowohl Ludwig Erhard als auch John F. Kennedy können getrost als Antikommunisten bezeichnet werden. Es sollte sich jedoch verbitten, sie als Faschisten zu titulieren oder gemeinhin Antikommunistinnen und Antikommunisten unter den Generalverdacht faschistischer Paranoia zu stellen. Bei den Beschwörern des Kulturmarxismus verhält es sich hingegen, wie es scheint, gänzlich anders. Für sie sitzt der Feind versteckt in staatlichen und kulturellen Institutionen verborgen in der eigenen Gesellschaft, die gesäubert werden müsse, um wieder zu einer Gemeinschaft zu werden. Scheint es bei vielen derzeit grassierenden Verschwörungsmythen noch einen mehrheitsgesellschaftlichen Konsens zu geben, dass es sich bei diesen um bloßen Nonsens handelt, hält die Erzählung des Kulturmarxismus Einzug in jene Kreise, die man gemeinhin bürgerliche Mitte nennt und könnte in Zukunft keinen unerheblichen Anteil daran haben, dass die derzeit viel beschworene „Brandmauer gegen Rechts“ einstürzt. Wie gezeigt wurde, hat die Idee einer kulturmarxistischen Verschwörung bereits ihren Weg in die Legislative gefunden und auch im kulturellen Bereich der bürgerlichen Öffentlichkeit, welcher ja eigentlich zu einem Schlachtfeld erkoren wurde und auf dem man sich auf verlorenem Posten wähnt, macht diese Erzählung Karriere. Hier sind es vorrangig klassisch-liberale Volkswirtschaftler, die mit ihren Veröffentlichungen regelmäßig die Spitze der Spiegel-Bestsellerliste erreichen. So stellt beispielsweise Markus Krall in seinem Buch Die bürgerliche Revolution (Spiegel-Bestsellerlistenplatz 2 nach Erscheinen) die Behauptung auf, man befände sich derzeit unter einem verschleierten Diktat des Sozialismus, welcher von einem „Kulturmarxismus hedonistisch-psychoanalytischer Prägung“ (vgl. Krall 2020: 147) flankiert werde und die Gesellschaft krank mache (vgl. ebd.: 138 ff.). Auch er adressiert direkt Adorno und Horkheimer als die Urheber dieser Verschwörung. Ihr angestrebter Sozialismus sei als „Feind [der] Freiheit und damit als Feind des Menschen überhaupt […] die Inkarnation des Dämonischen“ (ebd.: 143). Im Zentrum seiner Kritik steht die Furcht vor der endgültigen „Zerstörung von Ehe und Familie“ als letztes „Bollwerk“ (ebd.: 148) der Freiheit. Ähnlich sinniert Roland Baader, Kralls Kollege aus der einflussreichen Wiener Schule der Volkswirtschaftslehre, wenn er in seinem Erfolgsbuch Geldsozialismus – Die wirklichen Ursachen der neuen globalen Depression behauptet, ein in den Markt intervenierender Staat brächte „auch entwurzelte Intellektuelle [hervor], welche bestrebt sind, […] z.B. vaterlose Familien zu verteidigen und gesellschaftliches Denken vom Typ Politische Korrektheit zu forcieren. Dazu gehört auch die Behauptung, dass fast alles, was die meisten Menschen für verbrecherisch oder abartig halten – oder für wahr, schön und sinnvoll – genau das nicht sei. Unser öffentlich und mehr und mehr mit Schulden finanziertes Massenbildungswesen eröffnet den Anhängern perverser Überzeugungen die Gelegenheit zur Verbreitung ihrer Ideen in einem noch nie gekannten Ausmaß.“ (Baader 2010:41) 

Nun könnte man auf unterschiedlichen Ebenen nach dem Grund für den Erfolg des kulturmarxistischen Verschwörungsnarrativs suchen. So ließe sich die durch ihn artikulierte Angst vor einem totalen „Egalitarismus“ oberflächlich dem Phänomen eines erstarkenden Partikularismus und der zunehmenden Zurückweisung eines liberal-demokratischen Universalismus zuordnen, die Furcht vor einem „Feminat“ auf das Bröckeln patriarchaler Herrschaft zurückführen, die Panik vor „Multikulturalismus“ in Anbetracht der jüngsten Flüchtlingsbewegungen begreifen, die Abwertung nicht heteronormativer Lebensentwürfe eben mit deren voranschreitender institutionellen Etablierung begründen. Und spiegelt sich in der Angst der Konservativ-Liberalen vor der Erosion von Ehe und Familie nicht jenes klassisch liberale Phantasma eines sittlichen Oikos als Rückzugs- und Schutzraum aus der durchweg männlich konnotierten öffentlichen Sphäre eines erbarmungslosen Wettbewerbs? Kurzum erscheint der Kulturmarxismus in Anbetracht dieser Monokausalitäten doch bloß als eine weitere profane Ablehnung der Moderne. Aber dieses antisemitische und antifeministische Narrativ in seiner vielfachen Verkettung zu anderen derartigen Narrativen hat offenbar eine tiefer gehende Struktur. Man(n) fühlt sich hinterrücks um eine angestammte Hegemonie betrogen. In der Erzählung einer kulturmarxistischen Verschwörung klingt immer der Imperativ zur Resouveränisierung, zur Herstellung der alten Ordnung und somit implizit zur Verdrängung, Unterdrückung, des auf-den-Platz-Verweisens und mitunter.

Es sind scheinbar ausschließlich Männer, die sich dazu berufen fühlen, diese Säuberungsfantasien in die Tat umzusetzen und die sich dabei erschreckend oft auf eine sich derzeit vollziehende kulturmarxistische Verschwörung berufen. So verwendete der rechtsterroristische Attentäter Anders Breivik den Terminus über einhundertmal in seinem „Manifest“ 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung, welchem er zwei Anschläge folgen ließ, bei denen 77 vorrangig jugendliche Menschen ums Leben kamen. Auch die Attentäter von Christchurch, von Toronto und Halle verweisen auf einen entmännlichenden Feminismus, einen vorherrschenden Kulturmarxismus sowie anschlussfähige Narrative eines „großen Austauschs“ oder einer globalistischen Weltverschwörung. An den Beispielen dieser Terroristen zeigt sich u.a., dass es bei dem hier beschriebenen Phänomen zu einer Verbindung einer Ideologie der Abwertung von Menschengruppen sowie einer Ideologie mit umgekehrten Machtparadigma kommt. Man attestiert sich eine zivilisatorische Höherentwicklung gegenüber allen nicht-weißen Menschengruppen bei simultaner Furcht vor den Zumutungen der Moderne. So impliziert der Kulturmarxismus jedoch insbesondere sein Anschlussnarrativ vom „großen Austausch“ (initiiert durch die selben Machteliten) rassistisch ethno-pluralistische Programmatiken territorialer Reinhaltung gepaart mit Gewaltfantasien gegenüber der personalisierten Repräsentation einer komplexen Welt, worin sich die eigenartige Paradoxie einer Gleichzeitigkeit von Auf- und Abwertung der Eigengruppe offenbart. Pointiert fasst Adorno die daraus entstehende politische Maxime wie folgt zusammen: „die [Schwarzen] will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden“ (Adorno, Horkheimer 1944: o.S.) 

Der Kulturmarxismus reicht also von der Begründungsgrundlage liberal-konservativer und ethno-nationalistischer policies bis hin zur Rechtfertigung von Massenmorden vermeintlicher Einzeltäter. Allen scheint gemein, dass die Erosion der Geschlechterhierarchie und das Postulat der Gleichheit als existenzielle Bedrohung aufgefasst werden. In einer korrumpierten Gegenwart um seine wahren Rechte, seine wahre Identität betrogen, bezieht man sich wahnhaft auf feststehende Identität und natürliche Ordnung oder versucht diese gleich selbst im Akt der Gewalt wiederherzustellen bzw. durch diesen und die daraus folgende Vernichtung des Widerparts zu sich selbst zu kommen. Dabei ist die Gewalt(option) nicht auf die individuelle Ebene verbannt. Die existenzielle Bedrohung und die Wahrnehmung des Scheiterns an vermeintlich rechtmäßigen Ansprüchen wird kollektiv gefühlt und geteilt – immer öfter im virtuellen Raum. Daher ist die oft reflexartig hervorgebrachte Behauptung, bei jener neuen Art des Terrorismus handele es sich zwar um ein besorgniserregendes Phänomen, letztendlich jedoch seien die Akteure schwer verwirrte Einzeltäter, ein Zeichen fataler Ignoranz. Diese Täter mit ihrem ständigen Rekurs auf Volk und Rasse, scheinen davon besessen, ihre Identität und die Grenze dieser zu definieren und als unumstößlich zu setzen – und dieser Zwang, aus dem schließlich der Vernichtungswille herrührt, scheint symptomatisch für unsere Gegenwart zu sein. Die kulturmarxistische Verschwörung liefert die Erklärung dafür, dass die natürliche Ordnung, in welcher jene Männer aufgehen und eins mit sich werden können, nicht mehr existiert. Würde man die Linken, die Jüdinnen und Juden, die verheerende Nichtzugehörigkeit, die Entwurzelten und Heimatlosen los, so stünde diese Möglichkeit wieder offen. Wenn Björn Höcke in einer Rede folgenden Appell an seine Anhängerschaft richtet: „Wir müssen unsere Männlichkeit wieder entdecken. Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft und wir müssen wehrhaft werden, liebe Freunde“, dann bedarf es keiner großen Fantasie sich auszumalen gegen wen sich die männlich-brachiale Abwehr richten soll und bereits richtet, nämlich gegen die „hinterhältige Infiltration“ der Gesellschaft durch etwa Kulturmarxistinnen und -marxisten, also Frauen, Jüdinnen und Juden, deren „politische Korrektheit“ als Gift durch die Institutionen hinein in die Gesellschaft sickert. Und so bedient das Narrativ des Kulturmarxismus seiner ganzen Aufmachung nach auch Bilder, welche in der Kollektivsymbolik vornehmlich weiblich und jüdisch konnotiert sind: der heimatlose Verschwörer, die Giftmörderin. 

Unvermeidlich stellen sich die Bezüge zu Klaus Theweleits Untersuchung zur soldatischen Männlichkeit her. Offenbaren sich die Verfechter der Kulturmarxismusthese nicht eben als jene Fragmentkörper, welche die Gleichheit und Uneindeutigkeit schlicht nicht aushalten können? Sind in den Attentätern von Halle, Utøya, Christchurch etc. nicht eben jene soldatischen Männer am Werk, welche im Akt des Tötens ihre erlösende Gesamtheit erfahren und ist das Schwadronieren über die Übel des Kulturmarxismus nicht dieselbe Angst vor der Entmännlichung, der selbe vernommene Angriff auf das Geschlechtsteil, die selbe Furcht vor kommunistischer Kastration durch die Frau, die Theweleit bei diesem Typus Mann verortet? Der Verdacht liegt nah. 

Auch andere sozialpsychologische und psychoanalytische Beobachtungen helfen, das Phänomen des Kulturmarxismus als antisemitisches wie antifeminines bzw. antifeministisches Phänomen zu behandeln. Die Rabbinerin Delphine Horvilleur dechiffriert in ihren Überlegungen zur Frage des Antisemitismus eine spezifische Paradoxie der Judenfeindlichkeit, nämlich, den ihr oft inhärenten Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden immer zu sehr der oder die Gleiche sowie zu sehr der oder die Andere zu sein bzw. die historische Permanenz widersprüchlicher Vorwürfe wie: Jüdinnen und Juden seien zu auffällig, aber mischten sich gleichzeitig unters Volk, sie seien gegen das System und verkörperten es gleichzeitig, seien nicht identifizierbar und gleichzeitig Verfechter der Endogamie etc. So verrate der Antisemitismus (ergo die Angst vor kulturmarxistischen Umtrieben) selbstverständlich rein gar nichts über Jüdinnen und Juden, jedoch offenbart er das totale Unvermögen der Antisemiten mit Brüchen in der eigenen Identitätsbestimmung umzugehen. Nicht nur neidet man Jüdinnen und Juden das „verschwörerische“ Kollektiv, ihre „betrügerische“ Verbindung zur Macht (wie sie sich in der Erzählung des Kulturmarxismus besonders stark zeigt). Es ist insbesondere das Unstete und die eigentliche Nicht-Existenz einer jüdischen Identität, die die Identitätssuche von Menschen, welche sich durch diese abschließen wollen, ad absurdum führt und dadurch die Gefahr eines existenziellen Scheiterns eröffnet – und die Vernichtung wird zum Mittel dieses abzuwenden (vgl. Horvilleur 2020). Wie die männliche Angst vor dem Fremden und somit vor allem die Angst vor dem Weiblichen in Grausamkeit umschlagen kann, analysiert auch der Soziologe Rolf Pohl in seiner Studie Feindbild Frau. Pohl sieht die Wurzel antifemininer Gewalt bei Männern im Antagonismus zwischen „erwünschter Autonomie und gefürchteter Abhängigkeit“ (Pohl 2019: 5) in einer Gesellschaft, in der das Männliche immer noch als die höherwertige Norm gelte. So erweise sich „gerade weil das Gefühl männlicher Überlegenheit auf der unbewussten […] Herabsetzung der Frau basiert, […] der Wunsch nach Autonomie und Erhabenheit als trügerische Illusion, denn hier zeigt sich, dass der Mann nirgends schwächer und (scheinbar) einer „fremden“ Kontrolle unterworfen ist, als auf dem Feld der Sexualität“ (ebd.). Was hieraus resultiere sei eine „paranoid getönte, im Notfall kampfbereite Abwehrhaltung, deren unbewusster Kern eine ambivalente, aus Angst, Lust und Hass gekennzeichnete Einstellung zu allem Bedrohlichen, das als Schwäche, als nicht-männlich empfunden und mit Frau und Weiblichkeit assoziiert bzw. davon abgeleitet wird und das im Krisenfall mittels Projektion ‚externalisiert‘, verfolgt und nun im Außen als ‚Notwehr‘ energisch bekämpft werden kann“ (ebd.). Dieses hier beschriebene Muster erscheint grundlegend für die benannten „Krieger gegen die Moderne“. Es ist eine narzisstische Kränkung, welche die Breiviks und Tarrants in einem grausam konsequenten Akt der Mann-Werdung wieder-gut-gemacht wissen wollen. In diesem Licht erscheinen die Terrorakte als eine Art fanatischer Satisfaktion. Es ist dieselbe narzisstische Kränkung, die Vertreter der Kulturmarxismusthese fühlen und artikulieren. Sie ist der Grund für die beschriebene Verquickung von Antifeminismus und Antisemitismus. Die simultane Furcht vor der Auflösung der persönlichen sowie der völkisch/nationalen Einheit und das damit einhergehende hasserfüllte Gefühl einer bedrohten oder bereits entwendeten Souveränität findet im Juden und der emanzipierten Frau seine „ideale“ Objektanbindung. Denn es sind eben diese Figuren, welche qua ihrer ihnen attestierten „Unzuordbarkeit“ und/oder geschlechtlichen Zwischenposition ein angeblich urgewesenes Ganzes und seine archetypische Ordnung zersetzen. 

Zweifelsohne bedeutet die Karriere der Kulturmarxismusthese hin zum Politikum eine Gefahr für emanzipatorische Errungenschaften generell und alle „Anderen“ im speziellen. Sie sollte keinesfalls als singuläres Phänomen betrachtet werden. Eine psychoanalytische Betrachtung solcher antisemitischer und antifeministischer Deutungsmuster kann die Ursache für deren gesellschaftlichen Erfolg in den Persönlichkeitsentwicklungen ihrer vielen Verfechter ergründen. Hielte man es mit Fromm und der Annahme, dass diese Struktur durch gesellschaftliche Kräfte bestimmt und über die Familie vermittelt wird, dann läge die Möglichkeit, diesen Gefahren beizukommen, mittelfristig in liebevoller elterlicher Erziehung, in einer sensiblen Jugendarbeit und einer wirklich kritischen Pädagogik, welche ihre Grundlegung in der Insistenz auf das Individuum als ein in-sich widersprüchliches, unabgeschlossenes und sich daher stetig (um-)bildendes findet – als ein solches also, das sich nicht identisch-machen kann. 

Das Feld der Identitätspolitiken indes ist hochgradig ambivalent. Die Konstitution von Kollektividentitäten zum Zwecke des politischen Kampfes und der Repräsentation, welche den Allgemeinheitsanspruch des bürgerlichen Staates der Ideologie überführt, ist ein emanzipatorischer Akt, welcher seinen historischen und gegenwärtigen Niederschlag in Arbeiterinnen-, Frauen-, Schwulen-, Lesben und Anti-Rassismus-Bewegungen (etc.) findet – welche eben wegen ihres herrschaftskritischen Befreiungsanspruchs von rechten Identitätsfetischisten angegriffen werden.

Linke Kollektividentitäten konnten und können Vehikel des gesellschaftlichen Fortschritts sein. Ein Individuum, welches sich jedoch nicht in Feindschaft zur eigenen Individualität verhalten möchte, kann diese nutzen, sich für sie einsetzen und im Namen dieser sprechen, aber es darf sich auch in solchen Kollektividentitäten nicht auflösen – das wäre ein Akt der Unterwerfung unter eine identitätslogische Gewalt und letztendlich die Negation des Individuums selbst, welche von Faschisten auf die weitaus grausamste Weise seit langem schon vollzogen wird.

 

Literatur:

Adorno, Theodor W. (1969) : „Keine Angst vor dem Elfenbeinturm“ Interview im: Spiegel
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45741579.html (Stand: 07.11.2021) 

Adorno, Theodor W. (1986) : „Drei Fragen in der Silvesternacht 1966“ in:
Vermischte Schriften II, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 

Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max (1944) : „Elemente des Antisemitismus – Grenzen der Aufklärung“ in: http://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/adorno01.html (Stand: 07.11.2021) 

Atkinson, Gerald (1999) : „What ist the Frankfurt School?“ in: https://eagleforumofcalifornia.org/pages/What_is_the_Frankfurt_School_-_Dr._Gerald_Atkinson_-_1999.pdf (Stand: 07.11.2021) 

Baader, Roland (2010) : „Geldsozialismus – Die wirklichen Ursachen der globalen Depression“,
Resch, Gräfelfing 

Gebhardt, Richard (2018): „Alice im Verschwörungswunderland“ in:
https://jungle.world/artikel/2018/06/alice-im-verschwoerungswunderland?page=all (Stand: 07.11.2021) 

Horvilleur, Delphine (2020) : „Überlegungen zu Frage des Antisemitismus“, Hanser, Berlin 

Jamin, Jérôme (2018) : „Cultural Marxism: A Survey” in:
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1111/rec3.12258 (Stand: 07.11.2021) 

Keller, Joachim (2018) “Mitteilung der AFD Sachsen zum 2. Gender-Award“ in: https://www.facebook.com/AfD.Sachsen/photos/a.322068014589056/1552027261593119/?type=3&theater (Stand: 07.11.2021) 

Krall, Markus (2020) : „Die bürgerliche Revolution“, Langen Müller, Stuttgart 

Pohl, Rolf (2019) : „Feindbild Frau – Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen“,
Offizin, Hannover 

Stiglitz, Olaf (2007) : „What I’d done was correct, but was it right? – Öffentliche Rechtfertigungen von
Denunziationen während der McCarthy-Ära“ in: Zeithistorische Forschungen (4/2007), S. 40-60 

Theweleit, Klaus (2019) : „Männerphantasien“, Matthes&Seitz, Berlin

Von Storch, Sven (2019): „Sozialistische Familienpolitik stoppen – Freiheit statt Kulturmarxismus“ in: https://www.familien-schutz.de/2019/05/23/sozialistische-familienpolitik-stoppen-freiheit-stattkulturmarxismus/ (Stand: 28.20.2020)

Weidel, Alice (2018): „Die Angst der Kulturmarxisten vor der Aufklärung und der AFD“ in:
https://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2018/die-angst-der-kulturmarxisten-vor-der-aufklaerung-und-der-afd/ (Stand: 07.11.2021)