Kaum eine staatliche Israel-Solidaritätserklärung ohne ein vorangestelltes „Nie wieder“ – heute, am 10. Dezember in Berlin, garniert durch den Slogan „Deutschland steht auf“. Kaum eine pro-palästinensische Demonstration ohne Verweis auf die angebliche Ironie der Geschichte, nach der Jüdinnen und Juden die neuen Nazis seien, Gaza Dresden oder Auschwitz oder irgendwer irgendwer anders. Alle scheinen aus der Geschichte gelernt zu haben – oder eben nicht, je nachdem, wen man fragt.
Nicht zuletzt aufgrund der „Querdenken“-Bewegung, die sich Davidsterne anheftete, um sich als die „neuen Juden“ zu inszenieren, ist man in Deutschland erprobt, unpassende NS-Vergleiche zu erkennen und zu skandalisieren. Vergleiche – so die Kritik der Kritik – sind jedoch erst einmal nichts Verwerfliches, vergleichen kann man schließlich alles. Richtig. Ein Vergleich, der zwei Gegenstände auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht, ist sinnvoll. Viel mehr noch: Politisches Handeln kann sich nur aus und durch die Geschichte hindurch formieren und muss einen Begriff der es beeinflussenden Umstände entwickeln, welche sich erst mittels unerfüllter Zukunftsbilder und Sehnsüchte der Vergangenheit greifen lassen. „Vergangenes historisch artikulieren heißt: dasjenige in der Vergangenheit erkennen, was in der Konstellation eines und desselben Augenblicks zusammentritt. Historische Erkenntnis ist einzig und allein möglich im historischen Augenblick“, schrieb Walter Benjamin. Und an anderer Stelle: „Vergangenes artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ Das in der Geschichte schlummernde Leben gilt es ins Heute zu übersetzen, um es nicht zum Verstummen zu bringen. Ein Verstummen, das auch durch eine rationalistisch-positivistische Analyse verursacht werden kann, welche statt geschichtliche Wahrheiten erkennen zu wollen, ein statisches Bild des Vergangenen zeichnet. Unwahr ist also der Vorwurf, Bezüge zur NS-Zeit seien nur dann richtig, wenn sich der gegenwärtige Gegenstand damit in eins setzen lässt oder genügend Übereinstimmungen auf dem Papier bekommt.
Ein notwendiges „Gegen den Strich bürsten“ der Geschichte – gemeint ist damit die Verabschiedung von einer Betrachtung der als linear wahrgenommenen, abgeschlossenen Vergangenheit zugunsten einer geschichtlichen Dialektik, die erst im politischen Handeln erkennbar wird – findet sich in aktuellen NS-Vergleichen jedoch nicht wieder. Vielmehr haben wir es mit dem Gegenteil zu tun, also einem instrumentellen Umgang mit Geschichte, die als abgeschlossenes Ereignis neben die Gegenwart gestellt wird. Nicht der Erkenntnisgewinn, nicht das Zitat, nicht die Befreiung ist der treibende Motor. Nicht etwa nimmt der Vergleich den Startpunkt für etwas ein. Er bildet bereits den Endpunkt der eigenen Denkbewegung. Unverstanden bleibt dabei all das, worauf man sich beziehen möchte. Unverstanden bleibt dasjenige an Auschwitz, das Auschwitz zu Auschwitz werden ließ und Auschwitz zum beliebten Skandalon. Dass derzeit zehntausende Menschen, viele Zivilisten, in Gaza getötet werden, lässt sich bereits aus sich heraus kritisieren, ohne aus den unzähligen Menschheitsverbrechen dasjenige rauszusuchen, das wohl die geringste Verwandtschaft zum aktuellen militärischen Vorgehen Israels besitzt. Die viel beschworene „Lehre aus der Geschichte“ kann selbstverständlich nicht sein, auf die Machtübernahme einer neonazistischen Partei, den Bau von Konzentrationslagern, die Deportation und den industriellen Mord an mehreren Millionen Menschen zu warten. Aber: Auschwitz wurde nicht zu Auschwitz aufgrund der Anzahl der Ermordeten, nicht einmal aufgrund der Industrialisierung des Massenmordes, auch nicht aufgrund der Kälte ihrer Täter. Der eliminatorische Antisemitismus der Nationalsozialisten gilt nicht als Zivilisationsbruch, weil er genozidal war, er gilt als Zivilisationsbruch – als Singularität –, weil das Irrationale zum Rationalen wurde. Meint: Diejenigen, die fein säuberlich aus ihren Häusern und Gemeinden gerissen wurden, konnten sich die eigene Deportation unter keinen Umständen erklären. Die Vernichtung folgte keiner nach aufklärerischen Maßstäben erkennbaren Logik, sondern wurde selbst zur wahnhaften Logik. Keine territorialen, keine weltanschaulichen, keine historischen, keine militärischen, keine politischen, keine propagandistischen Deutungen lieferten auch nur einen Ansatz zur Beantwortung der Frage „Warum?“, welche sich die Betroffenen notgedrungen stellen mussten. Das zu erkennen, wäre der erste Schritt für ein historisches Verständnis.
Die Fotos etwa von oberkörperfreien Menschen, umringt von Soldatinnen und Soldaten in Gaza, sind erst einmal genau das. Wer bei solchen Bildern aufgrund visueller Ähnlichkeiten reflexhaft an NS-Konzentrationslager denkt oder sich bewusst die Bilder aus KZs für die moralische Empörung zu eigen macht, zeigt dadurch in erster Linie historische Bewusstlosigkeit statt historischen Denkens. Es versinnbildlicht die Begeisterung für Oberflächlichkeiten – im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn Schwarzvermummte auf einer Antifa-Demo für die bürgerliche Presse aussehen wie Schwarzvermummte auf einer Neonazi-Demo, so ist damit die nichtsahnende, gehaltlose Ideologie auf den Begriff gebracht. Wer sich mit äußerlichen Ähnlichkeiten begnügt, statt sie als Anknüpfungspunkt zu nehmen, sich den Kern ihrer inneren Dynamik einzugedenken, hat jedes kritische Denken und Handeln bereits aufgegeben.
Was aber wäre nun die „Lehre aus der Geschichte“? Zuvorderst das, was in der deutschen Erinnerungskultur, welche von einem Lobgesang auf „die Demokratie“ kaum zu unterscheiden ist, den wohl geringsten Stellenwert einnimmt: Die Frage, wie in einer Gesellschaft, die durch Aufklärung, Moderne, Wissenschaft – „Zivilisation“ – geprägt wurde, die Lust nach dem Zivilisationsbruch gedeihen konnte, gar zu untersuchen, ob und wie dieser bereits in ihr angelegt war.
Aber konkreter: Was lässt sich aus „der Geschichte“ für den aktuellen „Nahost-Konflikt“ lernen? Ist es das „Nie wieder ist jetzt!“, mit dem ein „breites Bündnis aus allen gesellschaftlichen Bereichen“ heute in Berlin auf die Straße geht? Lässt sich zu allererst fragen: Nie wieder was? Die Frage ist so banal wie unbeantwortet. Nie wieder Antisemitismus? Nie wieder Genozid? Nie wieder Mord? Nie wieder Nationalismus? Nie wieder 6 Millionen tote Jüdinnen und Juden? Nahm in der deutschen Linken die Diskussion, ob die zentrale Lehre „Nie wieder Krieg“, „Nie wieder Auschwitz“ oder „Nie wieder Deutschland“ sei, eine prominente Rolle ein, so hat man auf „offizieller“ Seite einfach gleich den Inhalt gestrichen. „Irgendwas ist jetzt!“ Da hilft auch nicht der ebenso unkonkrete Aufruf „für ein friedliches und respektvolles Miteinander in unserer Stadt und in unserem Land“ und „gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, mit dem die genutzten Begriffe mehr eingefroren statt entfaltet werden. Ganz nach der Benjaminschen Forderung, nach der „in jeder Epoche versucht werden [muß], die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“, muss auch diese Form des angeblichen Geschichtsbewusstseins als blanke Ideologie kritisiert werden.
Dass „Nie wieder“ zur leeren Floskel wurde, scheint unbestritten. Fraglich ist, ob es möglich ist, diese leere Formel im Sinne des Eingedenkens wieder mit Leben zu füllen. Ganz gewiss jedoch nicht, indem „Deutschland aufsteht“. Vielmehr hieße es:
Deutschland steht auf? Nie wieder!