Kritik des Toleranz-Paradoxons von Karl Popper

Kritik des Toleranz-Paradoxons von Karl Popper

Kaum eine Kommentarspalte zur Extremismustheorie, in der nicht mit dem Verweis auf das Toleranzparadoxon des Philosophen Karl Popper versucht wird, eine Lanze für die politische Linke zu brechen. Der Zusammenhang scheint erst einmal nicht abwegig: Popper hielt in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ von 1945 fest, dass Unterdrückung und Gewalt dann gerechtfertigt sind, wenn sie sich gegen eine Intoleranz erster Ordnung richten, der mit einem rationalen Diskurs nicht beizukommen ist. Die damit beschriebene Intoleranz zweiter Ordnung ist notwendig, um die offene, tolerante Gesellschafts-einrichtung zu schützen.

Doch hier zeigt sich bereits, weshalb Poppers Ansatz nicht widerspruchsfrei adaptiert werden sollte – zumindest nicht von linksradikaler Seite. In „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ führt Popper aus, was er mit einer „offenen Gesellschaft“ meint und von wem er diese bedroht sieht; namentlich von Karl Marx und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, denen er Totalitarismus und Utopismus vorwirft. Der Tenor ist klar: Die (neo)liberale Demokratie muss gegen jede grundlegende Veränderung verteidigt werden. Im „Positivismusstreit“ wurde abermals deutlich: Poppers Rationalismus möchte über das bloße Beschreiben der Gesellschaft, das reine Bewahren nicht hinaus gehen und verurteilt jede grundlegende Gesellschaftskritik, in der mehr als nur einzelne Machtkonstellationen innerhalb des Status-Quo untersucht werden. Die konformistische Vorstellung, wir lebten bereits in einer Utopie oder eine Utopie wäre prinzipiell nicht möglich, verhindert das Infragestellen alltäglicher Gewaltmechanismen, globaler Ungleichheiten, ökonomischer Zwänge und psychosozialer Missstände. Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ kann somit gewissermaßen als tragender Teil der Totalitarismus-, Extremismus-, bzw. Hufeisentheorie verstanden werden.

Dabei wäre die Hufeisentheorie in etwas abgewandelter Weise (als Magnettheorie) eine gar nicht komplett verkehrte Reduktion der politischen Landschaft. Streben die beiden Enden nach Veränderung, hat es sich die – etwas undefinierte – „Mitte“ zur Aufgabe gemacht, das Bestehende zu verwalten. Die noch ausstehende Befreiung des Menschen kann erst durch eine Entfernung von dieser Anti-Politik der Mitte erfolgen.

Von rechter Seite wird die Intention formuliert, den Status-Quo grundlegend verändern zu wollen und eine moralische Kraft gegenüber einer rationalistischen Welt darzustellen; dieser Wunsch nach Transformation wäre die Gemeinsamkeit linker und rechter Agitation. Wesentlich entscheidender als diese (nur oberflächliche) Übereinstimmung ist jedoch der inhaltliche Unterschied. Die politische Rechte strebt nach (Rück)bindung in Form einer völkischen-rassistischen oder kulturellen Homogenität. Die erstrebte Transformation ist dabei entweder eine Rückkehr in längst überwunden geglaubter Verhältnisse (Rechts-konservativismus) oder legt einen falschen Fortschrittsgedanken (Faschismus) an den Tag, der mehr durch einen revolutionären Gestus statt revolutionäre Inhalte geprägt ist. Faschistinnen und Faschisten verstehen sich als Gegenpart zum bürgerlichen Überbau des Kapitalismus, ohne die ökonomischen Aspekte grundlegend in Frage zu stellen. Die extreme Rechte unterscheidet daher nicht zwischen bürgerlichen und kommunistischen Ideen; für sie sind beide Ursprung der Entwurzelung des Menschen.

Gegen diese falsche Ablehnung der Hufeisentheorie müsste eine fortschrittliche Linke festhalten, dass die ursprünglichen Ideale und Gehalte der Aufklärung – und damit der bürger-lichen Gesellschaft – die Voraussetzung für die Befreiung des Menschen darstellen. Es wäre stattdessen hinzuweisen auf den Widerspruch zwischen dem Gleichheitsanspruch der sogenannten Mitte und der realen Ungleichheit. Es wäre zu kritisieren, dass ein um jeden Preis zu verhindernder Rückschritt im allgegenwärtigen Konformismus bereits angelegt ist. Und es wäre – anknüpfend an die Ideen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – für eine Revitalisierung utopischen Denkens über das Bürgertums hinaus zu kämpfen. Symbolisch hieße das, die linke Seite des Magneten zu stärken und die rechte auszubremsen, womit die Magnet-Analogie bereits an ihre Grenze kommt. Aber wir sind ja auch keine Physiker, sondern Kommunistinnen.

Magnet-Theorie